Memorbuch Großsachsen

Das „Memorbuch“ ist das älteste bisher bekannte Dokument, das in der israelitischen Gemeinde in Groß­sachsen entstanden ist. Professor Erhard Schnurr, Mitglied des Arbeitskreises, entdeckte es nach jahrelangen intensiven Recherchen. Das in Hebräisch von verschiedenen Personen offensichtlich in Großsachsen handschriftlich verfasste Dokument war bislang unbekannt. Andere frühe schriftliche Hinweise auf jüdisches Leben in Großsachsen und Leutershausen reichen bis in die Zeit um 1550 zurück, aber sie stammen aus Steuerlisten oder aus Listen der jüdischen Einwohner in den kurpfälzischen Orten, sind also alle andernorts entstanden.

Ein Memorbuch dient in einer jüdischen Gemeinde dem Gebet für verstorbene Mitglieder und der Einhaltung der Gedenktage. Häufig wird auch der Opfer früherer Pogrome gedacht. Der Name Memorbuch leitet sich aus dem historischen Aufbewahrungsort ab: Traditionell wurden die Memorbücher unter dem „Almemor“, dem Lesepult in der Synagoge, gelagert. Das Memorbuch aus Großsachsen ist vermutlich während der Regierungszeit des pfälzischen Kurfürsten Karl III. Philipp in den Jahren von 1716 bis 1743 entstanden. Es wurde bis zum Jahr 1830 handschriftlich weitergeführt.

Schnurr erforscht seit über 20 Jahren die Geschichte der jüdischen Familien aus Leutershausen und Großsachsen, den beiden Ortsteilen von Hirschberg. Seine spannende Spurensuche, die zur Entdeckung des Memorbuchs führte, begann im Leo Baeck Institut in New York, einer unabhängigen Forschungs- und Dokumentations­einrichtung für die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums. Es wurde 1955 unter anderen von Hannah Arendt und Martin Buber gegründet. In den dort vorhandenen digitalisierten und online zugänglichen Dokumenten stieß er im Nachlass von Berthold Rosenthal auf eine Liste von 20 Personen, teilweise mit einem Sterbe- oder Begräbnisdatum. Die Liste trug die Überschrift „Memorbuch Großsachsen“ ohne weitere Quellenangaben. Berthold Rosenthal lebte von 1875 bis 1957 und war ein jüdischer Lehrer in Mannheim. 1927 schrieb er ein grundlegendes Werk zur Geschichte der Juden in der Kurpfalz. Nach seiner Entlassung aus dem Schuldienst 1933 befasste er sich mit der Erstellung von Familienstammbäumen. Es war ihm gelungen, noch vor Beginn des Holocaust in die USA zu fliehen. Seine umfangreiche Dokumentensammlung gelangte ebenfalls in die USA und bildet heute seinen Nachlass im Leo Baeck Institut.

In einem ersten Schritt konnte Schnurr zeigen, dass einige der in der erwähnten Liste aufgeführten Personen tatsächlich in Großsachsen gelebt haben. Drei Personen aus der Liste sind im Sterberegister des Standesbuchs der israelitischen Gemeinde Großsachsen aufgeführt, das im Generallandesarchiv Karlsruhe zugänglich ist. Drei weitere Personen konnte er undatierten, aber zu Großsachsener Juden gehörenden Grabsteinen auf dem jüdischen Friedhof in Hemsbach zuordnen.

Der älteste Eintrag in der Liste bezieht sich auf einen Sterbefall im Jahr 1679, der jüngste auf das Jahr 1830. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass in der Zeit zwischen dem Beginn der Aufzeichnungen und dem Jahr 1830 mehr als 20 jüdische Bürger Großsach­sens verstorben sind und daher das vorliegende Memorbuch Lücken aufweist.

Bei seinen weiteren Recherchen stieß Schnurr ebenfalls im Nachlass von Berthold Rosenthal in einer ausführlichen Beschreibung der Vorfahren der Familien Mayer, Hirsch und Kaufmann aus Leutershausen und Großsachsen auf den Hinweis, das Memorbuch aus Großsachsen befände sich im Besitz eines Professor Darmstädter aus Mannheim.

Die Identifizierung des vermutlichen Besitzers mit dem Familiennamen Darmstädter gestaltete sich langwierig, weil dieser Name nicht selten ist. Schnurr fand schließlich in der stetig anwachsenden Zahl von digitalisierten Dokumenten im Archiv des Leo Baeck Instituts einen Nachlass von Karl D. Darmstädter, die sogenannte „Karl D. Darmstaedter Collection“. Darmstädter wurde 1892 in Birkenau geboren, lebte später meist in Ladenburg und war als Lehrer in Mannheim tätig, wahrscheinlich als Gymnasialprofessor oder Studienprofessor. In der Zeit des Nationalsozialismus wanderte er in die USA aus und lebte später in Washington. Er starb 1984.

In seinem Nachlass befindet sich ein nicht zugeordnetes Dokument in hebräischer Sprache, welches er mit einem Begleitbrief 1973 dem Leo Baeck Institut übergeben hatte mit der Bitte, das Dokument für spätere Generationen aufzubewahren. Im Begleitbrief beschrieb er, dass er weder Informationen über den Ursprungsort, die Entstehungszeit noch weitergehende inhaltliche Informationen besaß, da die wichtige Titelseite des Dokuments fehlte. Er konnte lediglich mitteilen, dass es sich um ein Memorbuch aus der Umgebung von Mannheim handeln müsse, da in einem gut lesbaren ersten Teil ein Bezug auf den lokalen Kurfürsten zu finden sei.

Das Memorbuch aus Großsachsen umfasst 16 Seiten in hebräischer Sprache und ist heute in Form von hochaufgelösten Ausdrucken von Mikrofilmen zugänglich. Es besteht aus drei Teilen: einem kalligrafischen ersten Teil, der mit einem Wappen geschmückt ist und den gut lesbaren Namen des Kurfürsten Karl III. Philipp enthält. Dieser erste Teil bildet, wie bei Memorbüchern üblich, ein Gebet für den Landesherrn und eine Huldigung an ihn. Im Fall Großsachsen war er auch gleichzeitig der Schutzherr der in der Gemeinde lebenden Juden.

Erster Teil des Memorbuchs mit dem Namen des Kurfürsten Karl III. Philipp

Der zweite, gut abgrenzbare Teil besteht aus mehreren Gruppen hebräischer Schrift in gleichem Schriftbild, die jeweils mit großgeschriebenen hebräischen Buchstaben begin­nen, die „ich erinnere“ oder „wir erinnern“ bedeuten. Es handelt sich dabei um die Schilde­rung historischer Pogrome gegen jüdische Gemeinden. Hier wird unter anderem an Oppenheim, Mainz und Koblenz, aber auch Spanien und Sizilien erinnert. Die Vermutung liegt nahe, dass die ersten beiden Teile des Memorbuchs vermutlich nicht in Großsachsen entstanden sind.

Im zweiten Teil des Memorbuchs wird an Pogrome in deutschen und europäischen Städten erinnert.

Der dritte Teil des Memorbuchs besteht aus 20 abgrenzbaren Textgruppen, die teilweise stark unterschiedliche hebräische Handschriften aufweisen. Dieser Teil ist sicher in Groß­sachsen von verschiedenen Personen bei den entsprechenden Anlässen geschrieben worden.

Der dritte Teil des Memorbuchs entstand in Großsachsen und enthält Namen der Verstorbenen zwischen 1679 und 1830.

Der erste und der zweite Teil des Memorbuchs war von Personen, die mit der Materie und der hebräischen Sprache vertraut sind, relativ einfach zu übersetzen. Dagegen waren die individuellen Texte im dritten Teil mit den unterschiedlichen Handschriften außerordentlich schwer zu entziffern. Mehrere der hebräischen Sprache kundige Personen versuchten es vergeblich. Da beim Schreiben Tinte unterschiedlicher Qualität verwendet wurde, war auch der Erhaltungszustand deutlich schlechter als bei den beiden ersten Teilen. Schnurr bat schließlich die Kunsthistorikerin Dr. Anat Gilboa aus Israel um Mithilfe. Ihr gelang es als erste, 18 der 20 Namen der Rosenthal-Liste in dem handgeschriebenen Text zu identifizieren. Die Reihenfolge der Namen in dem Memorbuch erwies sich als identisch mit der Reihenfolge der Namen in der Liste von Rosenthal.

Schnurr sieht es als gesichert an, dass sich das von Rosenthal genannte Memorbuch aus Großsachsen im Nachlass von Karl D. Darmstädter im Leo Baeck Institut in New York befindet, weil neben anderen Indizien 18 der 20 Namen der Rosenthal-Liste in diesem Dokument identifiziert werden konnten. Sechs Personen aus der Rosenthal-Liste haben nachweislich in Großsachsen gelebt.

Das Memorbuch bietet sich für weitere Forschungsaufgaben an. Außer den Namen können zum Beispiel auch die sehr schwer zu lesenden Begleittexte analysiert werden.

 

Quelle aller Abbildungen: Karl D. Darmstaedter Collection im Leo Baeck Institut

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